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Zankl.update im November 2023

Beitrag von ao. Univ.-Prof. Dr. Wolfang Zankl

Diese Ausgabe behandelt die neueste Judikatur des OGH zu den Themen:
  • “Diesel-Abgasskandal”: Geldersatz vom Hersteller aufgrund Minderwertes
  • Gemischte Nutzung des Bestandobjekts - keine Kündigung iSd § 30 Abs 2 Z 5 MRG nach Tod des bisherigen Mieters
  • Amtshaftung aufgrund Fehler im Verlassenschaftsverfahren durch Notar und Gericht
  • Erste OGH-Entscheidung zu KI


“Diesel-Abgasskandal”: Geldersatz vom Hersteller aufgrund Minderwertes

Der Kläger erwarb im April 2017 einen von der beklagten Fahrzeugherstellerin produzierten Gebrauchtwagen mit einem Motor, welcher vom „Diesel-Abgasskandal“ betroffen und mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung („Thermofenster“) versehen ist. Verkäuferin war nicht die Beklagte. Der Kläger hätte kein Fahrzeug gekauft, das nicht den EU-Abgasnormen entspricht, dies auch nicht zu einem günstigeren Preis. Der Kläger begehrt die Differenz des gezahlten Kaufpreises zum objektiven Minderwert, der bei Offenlegung der unzulässigen Abschalteinrichtung zum Ankaufszeitpunkt gezahlt worden wäre. Die Beklagte hätte rechtswidrig und schuldhaft und darüber hinaus absichtlich, arglistig, sittenwidrig und im Wissen um die Schädigung der zukünftigen Fahrzeugkäufer gehandelt. Als schädigender Dritter hafte die Beklagte für den überteuerten Kaufpreis. Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens, da sie am Kaufvertragsabschluss nicht beteiligt gewesen sei. Auch habe sie keine Kenntnis davon gehabt. Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Der Kläger habe durch den Ankauf des Fahrzeugs (noch) keinen Nachteil in seinem Vermögen erlitten. Ihm stünde ein Verkauf des Fahrzeugs zu marktüblichem Preis offen. Das Berufungsgericht ging von einer Haftung der Beklagten aus und hob das die Klage abweisende Urteil des Erstgerichts zur Klärung der Verschuldensfrage auf.

Der Oberste Gerichtshof bestätigte diesen Aufhebungsbeschluss. Der Erwerber eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Fahrzeugs kann demnach vom Hersteller zwar Rückzahlung des Kaufpreises gegen Übergabe des Fahrzeugs in Form einer Zug-um-Zug Abwicklung verlangen. Dies schließe aber die Möglichkeit nicht aus, den Minderwert des mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Fahrzeugs geltend zu machen. Auch wenn  Aktuelle Entwicklungen im Zivilrecht. der Kläger das Fahrzeug bei Offenlegung der unzulässigen Abschalteinrichtung nicht erworben hätte, habe der Erwerber trotzdem Anspruch auf ein Fahrzeug ohne unzulässige Abschalteinrichtung. Für die Schadensbemessung verweist der OGH auf unionsrechtliche Vorgaben. Der Schaden ist demnach innerhalb einer Bandbreite von 5 % (aus Gründen unionsrechtlicher Effektivität als Untergrenze) und 15 % (aus Gründen unionsrechtlicher Verhältnismäßigkeit als Obergrenze) des Kaufpreises festzusetzen. Die Rechtssache geht nun wieder zurück zum erstinstanzlichen Gericht. Es ist das Vorbringen der Beklagten zu prüfen, sie habe nicht schuldhaft gehandelt, weil sie einem Rechtsirrtum über die Zulässigkeit der Abschalteinrichtung unterlegen sei (10 Ob 27/23b).

Gemischte Nutzung des Bestandobjekts - keine Kündigung iSd § 30 Abs 2 Z 5 MRG nach Tod des bisherigen Mieters

Mit Mietvertrag aus dem Jahr 1965 mietete der Vater des Beklagten die aufgekündigte Wohnung Tür 11 und 12 „zur Benutzung als zahnärztliche Ordination und Wohnung“ auf unbestimmte Zeit an. Die Wohnungen waren schon bei der Anmietung verbunden, der Mietzins wurde getrennt vorgeschrieben. Der Mietgegenstand hat etwa 320 m². In der Wohnung wohnten der Vater, die Mutter und der Bruder des Beklagten, sowie der Beklagte selbst. Der Beklagte ist seit seiner Geburt 1966 durchgehend und ausschließlich an der aufgekündigten Adresse mit Hauptwohnsitz gemeldet und zog nie aus der Wohnung aus. Bis zum Tod des Vaters am 19. Mai 2017 führten dieser und der Beklage den Haushalt gemeinsam, zuletzt mit Unterstützung einer Haushaltshilfe. Im Jahr 1992 übernahm der Beklagte die Zahnarztordination und den Kassenvertrag seines Vaters an der aufgekündigten Adresse. Der Beklagte nützt alle Räume der Wohnung, davon rund 111 m² als Zahnarztordination. Der Beklagte erbte mehrere Liegenschaften, dabei unter anderem eine 76 m² große Wohnung in 1090 Wien und ein Haus mit 172 m² Wohnfläche in 1130 Wien. Die Klägerin begehrte die Aufkündigung der Wohnung aus dem Grund des § 30 Abs 2 Z 5 MRG. Sie brachte vor, dem Beklagten stünden einige Eigentumswohnungen und zwei Häuser in Wien als Ersatzwohnmöglichkeiten zur Verfügung, weshalb kein dringendes Wohnbedürfnis bestehe. Der Beklagte wendete ein, sein verstorbener Vater habe die aufgekündigten Räumlichkeiten zu Wohn- und Geschäftszwecken gemietet. Er habe im Zeitpunkt des Todes seines Vaters auch über keine gleichwertige Ersatzwohnung verfügt. Das Erstgericht hob die gerichtliche Aufkündigung auf, da es das dringende Wohnbedürfnis des Beklagten am Bestandgegenstand mangels Gleichwertigkeit, der ihm sonst zur Verfügung stehenden Objekte bejahte. Das Berufungsgericht erachtete den Kündigungsgrund des § 30 Abs 2 Z 5 MRG schon deshalb für nicht gegeben, da das Objekt sowohl zu Wohnzwecken als auch als Zahnarztordination vermietet worden sei und der Zweck der Vermietung als Geschäftsräumlichkeit nicht völlig in den Hintergrund trete. Der Oberste Gerichtshof erachtete die Revision zur Klarstellung der Rechtslage als zulässig, jedoch nicht berechtigt. Grundsätzlich führte er aus, dass der Vermieter gemäß § 30 Abs 2 Z 5 MRG zur Kündigung berechtigt ist, wenn die vermieteten Wohnräume nach dem Tod des bisherigen Mieters nicht mehr einem dringenden Wohnbedürfnis eintrittsberechtigter Personen (§ 14 Abs 3 MRG) dienen. Der Kündigungsgrund setzt daher unter anderem das Ableben des Mieters von Wohnräumlichkeiten voraus. Der klagende Vermieter hat den Tod des Mieters und die Wohnraummiete zu behaupten und zu beweisen. Ob ein Hauptmietvertrag über eine Wohnung oder über Geschäftsräumlichkeiten vorliegt, hängt davon ab, ob der Mietgegenstand nach der Parteienabsicht beim Abschluss des Mietvertrags zu Wohn- oder zu Geschäftszwecken in Bestand gegeben und genommen worden ist oder welcher Zweck von den Parteien später einvernehmlich zum Vertragszweck gemacht worden ist. Der Kündigungsgrund des § 30 Abs 2 Z 5 MRG ist nicht anwendbar, wenn sich Wohn- und Geschäftszweck die Waage halten. Denn auch bei vereinbarter gemischter Nutzungsart kann der Vermieter wegen Nichtbenützung nur kündigen, wenn die Kündigungsgründe der § 30 Abs 2 Z 6 und Z 7 MRG verwirklicht sind. Dies gilt jedenfalls dann, wenn nach dem konkreten Vertragsinhalt die vereinbarte Verwendung zu beruflichen Zwecken des Mieters der vereinbarten Verwendung für Wohnzwecke gleichwertig ist. Insoweit kommt der Kündigungsgrund des § 30 Abs 2 Z 5 MRG nicht zur Anwendung, auch wenn der Mieter im Objekt einem üblicherweise in einer Wohnung ausgeübten Beruf nachgeht. Werden wie im vorliegenden Fall zwei Wohnungen als einheitliches Bestandobjekt vermietet, und zwar zu Wohnzwecken und zum Betrieb einer Zahnarztordination, ohne im Mietvertrag festzulegen, welche Räume des Gesamtobjekts konkret wozu verwendet werden sollten, und lässt sich aus der Vertragsurkunde auch nicht ableiten, dass einer der beiden Zwecke überwiegen sollte, scheidet eine Kündigung nach § 30 Abs 2 Z 5 MRG aus (7 Ob 10/23f).


Amtshaftung aufgrund Fehler im Verlassenschaftsverfahren durch Notar und Gericht

Der Erblasser war 2016 ledig und kinderlos verstorben. Die Kläger sind gesetzliche Erben nach dem Verstorbenen. Dessen Nachlass wurde seiner vormaligen Pflegerin aufgrund einer handschriftlichen Verfügung eingeantwortet. Demnach sollte die Pflegerin die "alleinig Begünstigte" des Mannes sein und die Verfügung den "Zweck der Betreuungen" erfüllen. Trotz Undeutlichkeit der Formulierung werteten der Gerichtskommissär und der Verlassenschaftsrichter die Verfügung als gültiges Testament. Folglich erbte die Pflegerin zunächst circa 1,5 Millionen Euro. Die damals bereits aktenkundigen gesetzlichen Erben (darunter auch zwei der Kläger) wurden weder zur Abgabe einer Erbantrittserklärung aufgefordert, noch wurde ihnen nach Zustellung einer Abschrift der Verfügung ausreichend Zeit zur Abgabe einer Erbantrittserklärung gewährt. Im Verfahren über die Erbschaftsklage wurde die Pflegerin zur Zahlung von ungefähr 1,5 Millionen Euro an die gesetzlichen Erben verurteilt. Dieser Betrag war allerdings großteils uneinbringlich. In einem weiteren Verfahren begehrten die Kläger aus dem Titel der Amtshaftung vom Bund die Zahlung der ihnen im Erbschaftsprozess zugesprochenen, gegenüber der Pflegerin uneinbringlichen Beträge. Sie argumentierten, dass sowohl der Notar als auch das Gericht im Auftrag des Staates arbeiten und daher für deren Fehler einstehen müsse. Die Vorinstanzen wiesen das Klagebegehren ab. Sowohl der Gerichtskommissär als auch der Verlassenschaftsrichter hätten davon ausgehen dürfen, dass die handschriftliche Verfügung des Verstorbenen ein unbedenkliches formgültiges Testament sei. Somit seien die gesetzlichen Erben nicht zur Abgabe einer Erbantrittserklärung aufzufordern gewesen.

Der Oberste Gerichtshof teilte diese Auffassung nicht und folgte der Ansicht des Autors. Der Notar und das Gericht hätten das Schriftstück kritischer sehen müssen. Es liege kein unbedenkliches Testament vor, da die Verfügung konkrete Zweifel am Vorliegen eines Testierwillens aufkommen lässt. Es wurden zwar Ausdrücke und Formulierungen wie „mein freier Wille“, „im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte“ und „ich bestimme … S* … zu meiner alleinig Begünstigten“ verwendet, die den Eindruck eines Testaments erwecken. Jedoch lässt sich kein Begriff eindeutig nur mit einer letztwilligen Verfügung in Zusammenhang bringen (anders als zB „Erbe“, „letzter Wille“, „ich vermache“). Der Tod des Erklärenden wird mit keinem einzigen Wort für die Erfüllung der Verfügung vorausgesetzt. Dies fällt hier umso mehr ins Gewicht, als der Absatz, dass „diese Verfügung … den Zweck der Betreuungen in der eigenen Wohnung erfüllen und nach dem Ermessen von Frau S* angewendet werden“ soll, sich auf den ersten Blick nicht in ein Testament einfügt und eher auf eine Vollmacht hindeutet. Nach § 157 Absatz 1 Außerstreitgesetz wären daher die nach der Aktenlage als Erben in Frage kommenden Personen nachweislich zu einer Erbantrittserklärung aufzufordern gewesen. Außerdem vereitelten die Organe der Beklagten durch die sofortige Einantwortung der Pflegerin den Zweck des § 152 Absatz 2 Außerstreitgesetz, den gesetzlichen Erben durch die Übermittlung des Testaments dessen Bekämpfung im Verfahren über das Erbrecht zu ermöglichen. Folglich wurde das rechtliche Gehör der gesetzlichen Erben in diesem Fall nicht gewahrt, weswegen der Staat nun Schadenersatz leisten muss (1 Ob 102/23s).


Erste OGH-Entscheidung zu KI

Die Ausgangslage bildete ein Fall, in dem die incaseof.law GmbH beklagt war. Die Beklagte betreibt ein Unternehmen mit folgendem Geschäftsmodell: Zunächst wird sie von ihren Kunden, vornehmlich Klein- und Mittelbetriebe, in aller Regel als Inkassoinstitut eingeschaltet, indem offene Rechnungen auf der hierfür vorgesehenen Internetplattform hochgeladen werden.
Ein mit Künstlicher Intelligenz ausgestattetes Softwaretool entnimmt sodann aus dieser Rechnung sämtliche relevanten Informationen und veranlasst die weiteren Mahnschritte. Bleiben diese erfolglos, hängt das weitere Handeln von dem Wert der eingemahnten Forderung ab. Beträgt dieser unter 5.000 Euro, erhält der Kunde eine automatische Nachricht, dass er die Möglichkeit habe, ohne Rechtsanwalt eine Mahnklage einzubringen. Für die von ihm selbst auszufüllende Mahnklage stellt ihm die Beklagte dabei von ihr bereits im Zuge der Inkassotätigkeit generierte Informationen zur Verfügung. Übersteigt die Forderung 5.000 EUR und besteht daher vor Gericht grundsätzlich Anwaltspflicht gem § 27 Abs 1 ZPO, wird der Kunde automatisch auf die Möglichkeit einer durch einen Rechtsanwalt einzubringenden Mahnklage hingewiesen. Entscheidet sich der Kunde für die Mandatierung eines Rechtsanwalts, wird ihm, nach einem automatischen Auswahlverfahren, ein mit der Beklagten über eine „Anbindungsvereinbarung“ vertraglich verbundener Rechtsanwalt („Partner-Rechtsanwalt“) vorgeschlagen („Matching“).Neben der genannten Inkassotätigkeit bietet die Beklagte auf ihrer Online-Plattform auch den Service „Rechtsfragen aller Art“ an. Dieser erlaubt Kunden rechtliche Fragen zu stellen und allfällige Unterlagen hochzuladen. Sodann identifiziert das mit Künstlicher Intelligenz ausgestattete Softwaretool die rechtlichen Problemstellungen automatisch und schlägt gegebenenfalls dem Kunden einen bzw mehrere für die konkrete rechtlich Fragestellung geeignete „Partner-Rechtsanwälte“ vor. Auf die Empfehlung eines konkreten Rechtsanwalts hat die Beklagte jedoch keinen direkten Einfluss. Zudem bietet das Softwaretool auch eine rechtliche Recherche. Entscheidet sich der Kunde für eine Mandatierung und Bevollmächtigung eines Partner-Rechtsanwalts, werden die Ergebnisse dieser KI-basierten juristischen Recherche dem Rechtsanwalt zur Verfügung gestellt. Die jeweiligen Anbindungsvereinbarungen enthalten keine vom Partner-Rechtsanwalt der Beklagten ausdrücklich überbundene Verpflichtung zur Wahrung der anwaltlichen Verschwiegenheit. In den Vereinbarungen wurde aber vorgesehen, dass die Beklagte 25 % des Honorarbetrags für entsprechende Beratungen des Partneranwalts erhält.
Der Kläger (Österreichischer Rechtsanwaltsverein - ÖRAV) begehrte im Wesentlichen Unterlassung aufgrund verschiedener wettbewerbsrechtlicher Verstöße (insb durch Rechtsbruch). So sei das Geschäftsmodell der Beklagten unzulässig, führe zur Verwechslungsgefahr mit Rechtsanwälten vorbehaltenen Tätigkeiten und verstoße gegen das Verbot der Winkelschreiberei sowie gegen das anwaltliche Standesrecht (va Verschwiegenheitspflicht und Provisionsverbot). Den verschiedenen Klagebegehren wurde lediglich in wenigen Punkten Folge gegeben, überwiegend wurden diese jedoch vom OGH abbzw zurückgewiesen:
Dem Vorbringen des Klägers, Rechtsvertretung und Rechtsberatung seien Anwälten vorbehalten, sodass es mit der Selbständigkeit des Anwaltsberufs und dem Verbot der Winkelschreiberei unvereinbar sei, einem Rechtsanwalt Handlungsempfehlungen zu erteilen, entgegnete der OGH Folgendes: Dem Geschäftsmodell sei an keiner Stelle zu entnehmen, dass der jeweils involvierte Anwalt an – sei es traditionell oder durch Verwendung von Künstlicher Intelligenz – angebotene Rechercheergebnisse oder Handlungsempfehlungen gebunden wäre. Zudem sei er dadurch auch nicht der Pflicht gemäß § 9 Abs 1 RAO enthoben, seinen Mandanten mit Treue und Gewissenhaftigkeit gegen jedermann zu vertreten. Woraus der Kläger ableiten wolle, dass ein Anwalt keinen externen oder nichtanwaltlichen Rat einholen oder entgegennehmen darf, sei nicht erkennbar. Der OGH hielt es auch für unverständlich, inwiefern die Selbständigkeit eines Anwalts durch die ihm von der Beklagten gelieferten Daten beeinträchtigt werden sollte. So konnte nicht festgestellt werden, dass der Anwalt „die eigentliche juristische Arbeit“ ohne Kontrolle an Dritte „auslagern“ würde. Es sei daher vertretbar, die Praxis der Beklagten in Ansehung der von ihrem System erfolgenden Erstellung von Recherchen für Anwälte als mit den einschlägigen standesrechtlichen Bestimmungen vereinbar anzusehen.
Weiters scheiterte der Kläger mit seiner Argumentation, dass die Durchführung der Kommunikation über die Plattform der Beklagten eine Verletzung der Verschwiegenheitspflicht nach § 9 Abs 2 RAO bzw der Datenschutzvorschrift gem § 40 Abs 3 RL-BA 20151  sei. Der OGH hielt es nämlich für vertretbar, dass die Weitergabe von Daten, die den Kernbereich der anwaltlichen Verschwiegenheit betreffen (nämlich die Kommunikation zwischen Mandanten und Anwalt), auch an einen vom Anwalt vertraglich zur Erbringung von Diensten herangezogenen Dritten keine Verletzung der Verschwiegenheitspflicht begründet. Denn der Dritte sei eine Hilfskraft des Anwalts und daher an § 9 Abs 2 RAO gebunden. Der Begriff „Hilfskraft“ werde nämlich weit verstanden und umfasse nicht nur Personen, die in einem Beschäftigungsverhältnis zum Rechtsanwalt stehen, sondern auch Dritte, wie etwa einen für den Aufbau und die Wartung der IT-Anlage eines Rechtsanwalts zuständigen Techniker. Die Ausgliederung (Outsourcing) bestimmter Dienstleistungen für Rechtsanwaltskanzleien sei üblich und nach den anwaltlichen Standesregeln nicht generell unzulässig. Im Übrigen sei der Datensicherheit genüge getan, da die Falldaten bis zur Mandatierung zweifach verschlüsselt in einer ISO-zertifizierten Cloud und nicht lokal gespeichert würden. Der Name der Beklagten „incaseof.law“ wurde zudem vom OGH nicht als irre- bzw zu Verwechslungen mit Anwaltskanzleien führend beurteilt. Erfolgreich war der Kläger hingegen mit dem Vorbringen, ein Rechtsanwalt dürfe nach § 47 Abs 3 Z 6 RL-BA 2015 an Dritte keine Provisionen, also Anteile seines Honorars, für die Vermittlung von anwaltlichen Dienstleistungen zahlen (4 Ob 77/23m).

Anmerkung

Einleitung
Die vorliegende E ist insofern zu begrüßen, als sie fortschrittsfördernd wirkt und der Verwendung von KI im anwaltlichen Bereich gegenüber grundsätzlich aufgeschlossen ist. Im Folgenden sollen – unter Berücksichtigung der Erkenntnisse der gegenständlichen E – kurz einige Aspekte, die iZm KI und rechtsanwaltlichen Tätigkeiten zu beachten sind, näher beleuchtet werden.

Offengelassene Aspekte Offen ließ der OGH
– da dies vom Kläger nicht geltend gemacht wurde -, ob gegenständlich eine Verletzung der standesrechtlichen Verpflichtung des § 40 Abs 2 RL-BA vorlag. So normiert diese Bestimmung die Pflicht des Rechtsanwalts, sämtliche Hilfskräfte ordnungsgemäß zu unterweisen und zu beaufsichtigen. In ihrem Satz 2 wird diese Verpflichtung dahingehend konkretisiert, dass der Rechtsanwalt insb mittels vertraglicher Überbindung dafür Sorge zu tragen hat, dass die bestehenden beruflichen Verschwiegenheitsverpflichtungen2  auch durch diese anderen Personen eingehalten werden. Da die Beklagte – wie auch vom OGH dargelegt3  – jedenfalls unter den weit auszulegenden Begriff der Hilfskraft des Rechtsanwalts fällt, hätte wohl der jeweilige Partner-Rechtsanwalt seine Verschwiegenheitsverpflichtung auf diese vertraglich überbinden müssen; dies geschah laut Sachverhalt jedoch nicht.

Analyse des Falles anhand des Artificial Intelligence Acts
Fraglich könnte zudem sein, ob der entscheidungsgegenständliche Sachverhalt im Lichte künftiger EU-Rechtsakte anders zu beurteilen wäre. Konkret wäre va an den geplanten Artificial Intelligence Act (AIA)4  zu denken. Dieser beruht auf einem risikobasierten Ansatz, wobei je nach Einsatzbereich der KI für höhere Risiken strengere Anforderungen normiert werden.5 Das vorliegende KI-Tool wäre dabei allerdings nicht als Hochrisiko-KI-System einzuordnen, da es nicht für die Anwendung in der Justiz (sondern lediglich durch Anwälte) bestimmt ist.6  Sehr wohl wären aber die Transparenzpflichten des Art 52 des Entwurfs des AIA der Europäischen Kommission einschlägig, denn diese gelten für „KI-Systeme, die für die Interaktion mit natürlichen Personen bestimmt sind“, was gegenständlich der Fall ist, wenn sich Personen mit verschiedenen rechtlichen Anliegen an die Plattform und ihr KI-Tool wenden. Das KI-System muss daher, um diesen Transparenzpflichten nachzukommen, so konzipiert sein, „dass natürlichen Personen mitgeteilt wird, dass sie es mit einem KI-System zu tun haben, es sei denn, dies ist aufgrund der Umstände und des Kontexts der Nutzung offensichtlich.“7 Der Abänderungsentwurf des Europäischen Parlaments geht noch weiter und fordert zusätzlich – soweit „angemessen und sachdienlich“ – Informationen darüber, „welche Funktionen KI-gestützt sind, ob es eine menschliche Aufsicht gibt und wer für den Entscheidungsprozess verantwortlich ist […].“ Gleichermaßen soll über verschiedene Rechte und Verfahren zu deren Durchsetzung in Bezug auf das KI-System informiert werden (gemeint sind ua etwa Behelfe gegen Entscheidungen oder Schadensverursachungen der KI).8 Während die Transparenzpflichten nach dem Entwurf der Kommission wohl leichter umzusetzen sind bzw uU im konkreten Fall bereits erfüllt werden (da es für die Nutzer wohl anhand des Internetsauftritts der Beklagten offensichtlich ist, dass sie es mit einem KI-System zu tun haben),9 erscheinen die zusätzlichen Vorgaben im Abänderungsentwurf des Europäischen Parlaments problematisch. Deren Umfang ist nämlich nicht zuletzt aufgrund unbestimmter Begriffe wie „angemessen“ und „sachdienlich“ alles andere als eindeutig, was im Hinblick auf die drohenden drastischen Strafen10 bei einem Verstoß gegen den AIA zu rechtsstaatlichen Bedenken11 führt. Für KI-Modelle wie jenes im konkreten Fall würde aber nach dem Abänderungsentwurf des EUParlaments der bloße Hinweis, dass Nutzer es mit KI zu tun haben, wohl nicht mehr ausreichen. Es bleibt allerdings auch abzuwarten, wie die Endfassung des AIA die Transparenzpflichten schlussendlich tatsächlich regeln wird.

Genauere Betrachtung anhand des Verbots der Winkelschreiberei
Beim Einsatz künstlicher Intelligenz in der juristischen Tätigkeit stellt sich allgemein die Frage, inwiefern dieser einen Eingriff in die Rechtsanwälten vorbehaltene und daher geschützte anwaltliche Tätigkeit darstellt – maW: ob darin also ein Verstoß gegen das Verbot der Winkelschreiberei zu sehen ist. Im Allgemeinen fällt unter das Verbot der Winkelschreiberei jede Tätigkeit, die einem Rechtsanwalt vorbehalten ist. Jedenfalls unzulässig ist die gerichtliche12 sowie die gewerbsmäßige außergerichtliche13 Vertretung.14 Im gegenständlichen Fall der incaseof.law GmbH besteht die Problematik eines Verstoßes gegen das Verbot der Winkelschreiberei aber von vornherein nicht. So ist zwar strittig, ob bereits die rechtliche Beratung - worunter wohl auch die Zurverfügungstellung der Ergebnisse der durch die KI vorgenommenen rechtlichen Recherche fällt - den Tatbestand der Winkelschreiberei erfüllt.15 Jedoch erfolgt die Bereitstellung der Rechercheergebnisse nicht an die Kunden, sondern unmittelbar an die Rechtsanwälte. Diese sind jedoch nicht an die Ergebnisse bzw an etwaige Handlungsempfehlungen der KI gebunden, weshalb diesbezüglich keinesfalls Winkelschreiberei vorliegt.16 Auch das Verfassen und Verschicken von Mahnschreiben durch die KI bereitet keine dahingehenden Bedenken. So ist die Inkassotätigkeit zwar als außergerichtliche Vertretung zu qualifizieren,17 allerdings beruht diese auf einer Gewerbeberechtigung nach § 118 GewO und stellt somit keinen Verstoß gegen das Verbot der Winkelschreiberei dar.18 Auch in der KIbasierten automatisierten Erstellung von Mahnklagen durch die incaseof.law GmbH ist uE – mangels Individualisierung19 – kein Verbotsverstoß zu sehen.  

1     Richtlinien für die Ausübung des Rechtsanwaltsberufes 2015 idF Beschluss Nr. 1/2022.
2     Va nach § 9 Abs 2 RAO.
3     S die Punkte 41 und 102 der gegenständlichen E.
4     Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung harmonisierter Vorschriften für Künstliche Intelligenz (Gesetz über Künstliche Intelligenz) und zur Änderung bestimmter Rechtsakte der Union, COM (2021) 206 final.
5     Zankl, Künstliche Intelligenz, in Zankl (Hrsg), Rechtshandbuch der Digitalisierung (2021) 478 (Rz 23.18).
6     Als Hochrisiko-Systeme erfasst wären nämlich idZ gem Art 6 Abs 2 AIA-Entwurf der Kommission iVm Anhang III Z 8 nur „KI-Systeme, die bestimmungsgemäß Justizbehörden bei der Ermittlung und Auslegung von Sachverhalten und Rechtsvorschriften und bei der Anwendung des Rechts auf konkrete Sachverhalte unterstützen sollen.“. Theoretisch könnte sich zwar etwa auch ein Richter mit einer rechtlichen Frage an das KI-Tool wenden, dennoch ist dieses nicht hierzu bestimmt. Im Übrigen sind diese Bestimmungen nach Zankl und dessen Gutachtensausführungen als rechtswissenschaftlicher Leiter des Manz KI-Labors restriktiv auszulegen, weil nicht einzusehen sei, warum der Justiz die Verwendung moderner Arbeits- und Recherchemethoden erschwert werden soll.
7     Art 52 AIA-Entwurf der Kommission.
8     Art 52 der Abänderungen des Europäischen Parlaments zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung harmonisierter Vorschriften für künstliche Intelligenz (Gesetz über künstliche Intelligenz) und zur Änderung bestimmter Rechtsakte der Union, P9_TA (2023) 0236.
9     Bzw sie auch darüber informiert werden, da auf der Website (incaseof.law, zuletzt abgefragt: 19.10.2023) unter der Rubrik „Über uns“ erläutert wird, dass es sich um ein Tool handelt, welches „Rechtsfälle mithilfe künstlicher Intelligenz und erfahrenen Anwälten […] lösen kann.“ Weiter heißt es dort, dass das Tool die eingereichten Unterlagen analysiert und Daten selbstständig ausliest sowie den Fall aufbereitet, bestimmte Aufgaben automatisiert ausführt und den perfekt geeigneten Juristen ermittelt.
10     Vgl Art 71 Abs 4 AIA-Entwurf der Kommission (bis zu 20 Millionen EUR bzw 4 % des weltweiten Jahresumsatzes des vorangegangenen Geschäftsjahres); Im Abänderungsentwurf wurden die drohenden Geldbußen für diesen Fall zwar um die Hälfte niedriger angesetzt, doch sind sie damit immer noch sehr hoch.
11     So schon Zankl im in FN 6 erwähnten Gutachten.
12     Nach § 1 lit a bzw lit b WinkelschreibereiV sowie nach § 57 Abs 2 RAO.
13     Nach § 57 Abs 2 iVm § 8 Abs 1 und 2 RAO.
14     Vgl Müller/Rüffler, Legal Tech und Winkelschreiberei, AnwBl 2023/236 (240) mwN.
15     S Deixler-Hübner, Ist Winkelschreiberei bereits bei der Erteilung von Rechtsauskünften anzunehmen? Zak 2012/183.
16     So auch der OGH in der beitragsgegenständlichen E, Punkte 95 f.
17     Murko/T. Perner/Schnur, Rechtsberatung in Österreich, AnwBl 2023/356 (360 f); Müller/Rüffler, AnwBl 2023/236 (239).
18     So liegt im Falle des Vorliegens einer behördlichen Befugnis – eine solche stellt eine Gewerbeberechtigung dar – kein Verstoß gegen das Verbot der Winkelschreiberei vor, s etwa Deixler-Hübner, Zak 2012/183 (183).
19     Vgl Müller/Rüffler, AnwBl 2023/236 (239).

Alle monatlichen Zankl.updates auf einen Blick finden Sie hier: https://www.facultas.at/verlag/rws/zankl_update

7. November 2023



ao. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Zankl

ist Universitätsprofessor am Institut für Zivilrecht der Universität Wien (www.zankl.at), Gründer und Direktor des weltweiten Netzwerks für IT-Recht (www.e-center.eu), Entwickler und Leiter der ersten juristischen Crowd-Intelligence-Plattform (www.checkmycase.com) und Foundation Member der Computer Ethics Society Hong Kong.

 © Privat

 

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